Meeresforschung
Das Erbe der Kriege
Am Meeresgrund lagern abermillionen Tonnen alter Munition. Dadurch werden nicht nur die Meere nach und nach vergiftet – die gefährlichen Substanzen aus dem Sprengstoff gelangen auch in die menschliche Nahrungskette.
Das erste Mal noch hatte er ein mulmiges Gefühl. "Ich wusste", sagt Jens Greinert, „dass ein paar Meter unter unserem Schiffsrumpf tonnenweise Sprengstoff lag, der dafür gebaut worden war, Schiffe zu versenken.“ Viele Monate hatte Greinert in seinem Büro im GEOMAR, dem Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, auf diese Expedition hingearbeitet: Er hatte mit Kampfmittelspezialisten gesprochen, mit der Schifffahrtsbehörde, mit Forscherkollegen, und jetzt endlich sah er auf seinen Bildschirmen bis in die kleinsten Details jene Schrecken, die sein spezielles Echolot dort auf dem Meeresgrund aufspürte: Torpedos, Seeminen, Grundminen – alle diese Überbleibsel aus zwei Weltkriegen, die allmählich vor sich hinrosten.
Es ist eine heikle Mission, auf der sich die Wissenschaftler an den deutschen Küsten befinden: Das Forschungsprojekt, das Geologe Jens Greinert leitet, heißt UDEMM – ein Akronym für "Umweltüberwachung vor, während und nach der Delaboration von Munition im Meer".
1,6 Millionen Tonnen Munition liegen nach offiziellen Schätzungen im Wasser vor deutschen Küsten, überwiegend nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst versenkt.
Die Besatzungsmächte wollten den restlichen Sprengstoff, der noch in deutschen Kasernen lagerte, im Zuge der Entmilitarisierung Deutschlands unschädlich machen und entschieden sich, ihn vor den Küsten zu verklappen. "Wir wissen ungefähr, an welchen Stellen die Munition ins Meer geworfen wurde, das wurde alles in Seekarten eingezeichnet", sagt Jens Greinert. Das Problem: Die Kartierung ist denkbar ungenau – "die Schiffe fuhren einfach soundso lang in einem bestimmten Kurs auf die See hinaus und warfen die Munition dann ab." Die vermuteten Unterwasser-Lagerstätten sind heute Sperrgebiet, Schiffe dürfen dort nicht fahren – außer, sie bekommen eine Sondergenehmigung wie die Wissenschaftler vom UDEMM-Team. Sie untersuchen während der Projektlaufzeit vor allem das Ostsee-Gebiet nahe der Kolberger Heide, in dem tausende Sprengkörper versenkt worden sind.
Das Projekt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wird, soll zum einen Möglichkeiten entwickeln, die Munition möglichst präzise ausfindig machen, und zum anderen herausfinden, wie stark sich die Sprengstoffsubstanzen am Meeresboden ausbreiten. Denn von diesen Überbleibseln der Kriege geht nicht nur Explosionsgefahr aus. Sie enthalten auch zahlreiche Schadstoffe, die sie mit dem Verrosten allmählich freisetzen.
Für das Aufspüren ist die Arbeitsgruppe von Jens Greinert zuständig. Das Team nutzt dabei sogenannte Multibeam-Kartierungen, bei denen moderne Echolote den Boden absuchen. "Unser Ziel ist es, dass eine Software künftig auf den Aufnahmen die Munition entdeckt", sagt Greinert. Genau zu wissen, wo wieviel ausgedienter Sprengstoff liegt, ist wichtig, um die Umweltfolgen zu ermitteln. Wissenschaftler vom GEOMAR haben im Rahmen des Projekts neue Analysemethoden entwickelt, um die gelösten Stoffe aus der Munition aufzuspüren.
"Je stärker die Munition korrodiert, desto mehr gefährliche Substanzen treten aus. Über die Meeresbewohner gelangen sie dann auch in die menschliche Nahrungskette", umreißt Edmund Maser das Problem. Er leitet an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel das Institut für Toxikologie und ist mit seinen Kollegen inzwischen auch ein Spezialist im Bereich der Umweltforschung. Häufig enthalte die Munition Trinitrotoluol, besser bekannt als TNT. "Untersuchungen haben ergeben, dass TNT unter anderem krebserregend wirkt", sagt Maser. Für die Analyse der Munitionsbestände hat er ein ausgeklügeltes Verfahren entwickelt: Er hat Muscheln in kleine Körbchen gesetzt und diese dann von Tauchern im Meer fixieren lassen – direkt auf der Oberfläche der Munition und in verschiedenen Abständen zu den Fundstellen. "Die Muscheln filtern jeden Tag mehrere Liter Wasser, und wir sind davon ausgegangen, dass sich deshalb eventuelle Schadstoffe in ihnen nachweisen lassen", erläutert er die Herangehensweise. Nach einigen Wochen holten Taucher die Muschelkörbchen wieder an die Oberfläche, und tatsächlich konnten die hochauflösenden Messgeräte der Toxikologen eindeutige Veränderungen feststellen: Zwischen sechs und acht Nanogramm der gefährlichen Substanzen fanden sie in jedem Gramm Muschelgewebe. "Es muss rund um die Munitionslager eine Wolke von Stoffen entstehen, die sich im Wasser verteilt", lautet Masers Schlussfolgerung.
Das ist in dem Forschungsprojekt die Stelle, an der Anja Eggert ins Spiel kommt. "Wir simulieren die Verbreitung in den Meeren", sagt die Biologin und Ozeanographin vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde. Sie sitzt vor den Hochleistungsrechnern, die ihrem Team dabei geholfen haben: In die Modelle sind die Bedingungen in der Ostsee eingeflossen, von der Windstärke bis hin zu Wettereinflüssen. Dadurch lässt sich ermitteln, wie schnell und in welche Richtung das Wasser fließt. "Wir haben in die Modelle aber noch weitere Faktoren aufgenommen, um speziell die Verbreitung der Giftstoffe aus der Munition zu berechnen", sagt Anja Eggert. Salzgehalt und Temperatur des Wassers etwa sind entscheidend dafür, wieviel Sprengstoff sich löst – also hat sie diese Faktoren in das Modell mit aufgenommen. "Wir haben aus diesen Daten jetzt Karten erstellt, auf denen zu sehen ist, wie stark verdünnt die Substanzen in welchen Bereichen der Ostsee noch auftauchen", erklärt sie.
Das komplexe Modell, das Anja Eggert entwickelt, ist auch weit über das UDEMM-Projekt hinaus einsetzbar – genauso wie die meisten anderen Erkenntnisse aus dem Forschungsvorhaben auch. "Wir können das Modell gut auch auf andere Seegebiete übertragen, auf die Nordsee etwa oder selbst auf Gebiete im tropischen Pazifik", sagt Eggert. Diese universelle Verwendbarkeit ist besonders wichtig, weil überall auf der Welt Munition unter der Wasseroberfläche entsorgt wurde.
"Obwohl das Problem an so vielen Orten auftritt, gab es dazu bislang kaum Forschung", sagt Jens Greinert. Das hängt letzten Endes auch damit zusammen, dass es ein sensibles Thema ist, bei dem von der Politik bis hin zum Militär die unterschiedlichsten Akteure mitreden – und die haben sich bislang oft entschieden, mit Stillschweigen zu reagieren. "Das haben wir viel zu lange geduldet. Mit dem Wegschauen muss Schluss sein", sagte im Jahr 2016 der damalige grüne Landes-Umweltminister Robert Habeck in Kiel, als UDEMM offiziell vorgestellt wurde. Zeitgleich fiel der Startschuss für ein weiteres Projekt: Bei RoBEMM entwickeln Forscher ein Roboter-System, das die Munition unter der Wasseroberfläche unschädlich macht und birgt – auch hier sind Wissenschaftler vom GEOMAR beteiligt.
Für die grundsätzliche Frage, wie man am besten mit den Munitionsvorräten umgeht, sollen beide Forschungsprojekte wichtige Anhaltspunkte geben. Dass sich alle 1,6 Millionen Tonnen Sprengstoff vor den deutschen Küsten bergen lassen, halten fast alle Experten für illusorisch – zumal vor der Nordsee wegen der Gezeiten längst Schlick über der Munition liegt. Und selbst auf Schifffahrtsrouten liegt Munition:
"Jedes Schiff, das in die Kieler Förde fährt, passiert Minen", sagt Jens Greinert – "die können zwar nicht mehr von selbst explodieren, aber sie liegen da." In der Vergangenheit gab es schon kontrollierte Sprengungen, aber auch die haben eine Reihe von negativen Auswirkungen. "Ein Problem ist, dass der Sprengstoff wegen des Sauerstoffmangels unter Wasser nicht vollständig verbrannt", sagt Toxikologe Edmund Maser. Stattdessen verteilen sich auch kleine Klumpen von TNT am Meeresboden, "da sind selbst fußballgroße Brocken dabei". Eines seiner Muschelkörbchen hat Maser auch direkt an einem solchen Klumpen befestigen lassen – und ein erschreckendes Ergebnis erzielt: In den Muscheln war die Schadstoffkonzentration 50mal höher als neben den kompletten Sprengkörpern, wo offenkundig weniger gefährliche Substanzen entweichen. Und vor allem: Wenn die Metallhülle um den Sprengstoff fehlt – entweder nach einer kontrollierten Sprengung oder nach der vollständigen Korrosion –, lassen sich die Minen und Torpedos am Meeresgrund kaum noch detektieren.
Jens Greinert indes rüstet sich wieder einmal zu einer Expedition. Im Oktober geht es mit dem Forschungsschiff Poseidon in die Flensburger und die Lübecker Bucht bis hin zur polnischen Grenze. Drei Wochen lang wird er mit seinen Kollegen den Boden mit den speziellen Sonargeräten absuchen. Nur an den schaurigen Anblick der todbringenden Waffen dort am Meeresgrund, der sich ihm auf dem Bildschirm zeigt – an den könne er sich auch nach vielen Ausfahrten einfach nicht gewöhnen.
Der Artikel ist in den Helmholtz Perspektiven 03/2018 erschienen.
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